Die Lokomotivfabrik Arnold Jung, Jungenthal
Über hundert Jahre lang existierte eine Lokomotivfabrik vor den Toren des Siegerlandes. Sie entstand aus einer Kunstwollspinnerei in Jungen-thal bei Kirchen an der Sieg, die Gustav Jung 1853 gegründet hatte. Sein Sohn Arnold Jung war später Mitinhaber dieses Betriebes, der in Blütezeiten etwa 600 Arbeiter beschäftigte. Im Alter von 26 Jahren gründete Arnold Jung zusammen mit Christian Staimer am 13. Februar 1885 anstelle des in wirtschaftlichen Nöten befindlichen Texilbetriebes ein Lokomotivwerk, welches zunächst als "Jung & Staimer OHG" firmierte. Das Werk hatte zu Beginn 25 Mitarbeiter. Bereits am 3. Sep-tember 1885 wurde die erste Lokomotive für einen Bauunternehmer in Kiel ausgeliefert. In den ersten beiden Jahren mußten die neuen Loko-motiven noch per Pferdefuhrwerk zum Bahnhof in Kirchen transportiert werden. Mit der Eröffnung der Bahnlinie Kirchen-Freudenberg im Jahre 1887 erhielt die Fabrik dann einen eigenen Gleisanschluß, der die Zulieferung von Material und die Auslieferungen neuer Fahrzeuge erheb-lich vereinfachte. 1891 wurde die 100. Lokomotive ausgeliefert, bis dahin ausschließlich Schmalspur-Dampfloks. Jung fertigte dann für die Königlich-Preußische Eisenbahn-Verwaltung (KPEV) folgende Lokomo-tiven: 66 Stück T3 von 1998-1902, 15 Stück G5.1 von 1900-1901, 397 Stück G8.1 von 1913-1921, 129 Stück G8.2 von 1920-1924 und 330 Stück T9.3 von 1902-1913. Darüber hinaus wurden 23 Maschinen der badischen Bauart VIc zwischen 1917 und 1918 gefertigt. Die 1000. Lokomotive aus dem Werk an der Sieg war im Jahre 1907 eine vierfach gekuppelte, normalspurige Dampflok für die Freien Grunder Eisenbahn (FGE) im Siegerland. Loks aus der Lokomotivfabrik Arnold Jung gingen in alle Welt. Als Kuriosum sei vermerkt, dass die beiden einzigen Loko-motiven, die je auf Island fuhren, zweiachsige Jung-Dampfloks für 900 mm Spurweite waren.
Nachdem der Firmengründer, Kommerzien-rat Arnold Jung, 1911 gestorben war, trug die Fabrik ab 1913 die Bezeichnung "Arnold Jung Lokomotivfabrik GmbH“ und wurde von Paul Hintze geleitet. Für die Deutsche Reichbahn Gesellschaft (DRG) entstanden hier Tenderlokomotiven der Baureihe 64 (99 Stück 1928-1940), der Baureihe 86 und der Baureihe 80 (5 Stück 1928). Die große Schlepptender-Lokomotive der Baureihe 41 baute Jung in 40 Exemplaren in den Jahren 39/40.
Danach wurden - eher zwangsweise - im 2. Weltkrieg Güterzug-Lokomotiven der Bau-reihen 50 (105 Stück 1941-1942) und 52 (242 Stück 1942-1946) produziert. Seine 10.000. Lokomotive feierte Jung 1942 mit Ablieferung der Reichsbahn Lokomotive 50 2363. Jung stieg in den Kriegsjahren auch in den Panzer-Bau ein. Nach dem Krieg lieferte Jung von 1952 an 51 Maschinen der neu-entwickelten Baureihe 23 für die Deutsche Bundesbahn. Darunter war auch die letzte Dampflokomotive der Bundesbahn, die 23 105, die am 2. Dezember 1959 mit der Fabriknummer 13113 die Werkshallen an der Sieg verließ.
Die Dampflokproduktion endet bei Jung endgültig 1970 mit einer Dampfspeicherlok. Neben Dampflokomotiven entstanden zahlreiche Dieselloks: so die Kleinlokomotiven Kö I bis Köf III und die Baureihe 333 sowie die Lokomotiven der Baureihen V60, V90 und V100 der DB. Die letzte DB-Lok war die Diesellok V90 050 im Jahre 1976. Insgesamt baute Jung knapp 13.000 Lokomotiven: ca. 1000 Grubenlokomotiven, ca. 650 elektrische Lokomotiven und ca. 4600 Dampflokomotiven und nahezu 6500 Diesellokomotiven. Der größte Teil der Maschinen wurde für an Privat-, Gruben- und Werksbahnen in aller Welt produziert. Die letzte Lok, bezeichnenderweise eine Grubenlok, wurde im Mai 1987 mit der Fabriknummer 14286 ausgeliefert. Das Fabriknummern-Verzeichnis weist große Lücken auf, so dass nicht jede Nummer eine komplette Lok bedeutet. Beispielsweise fabrizierte Jung in den Jahren 1959 bis 1961 Neubaukessel für die Schnellzug-Dampflokomotive der Baureihe 01 unter eigenen Fabriknummern (Tabelle 1).
Tabelle 1: Lieferung von 37 Neubaukessel für die Baureihe 01
Einbau am |
Fabrik-Nr. |
für Lok |
17.02.1959 |
13011 |
01 183 |
27.04.1959 |
13012 |
01 149 |
20.07.1959 |
13013 |
01 104 |
07.07.1959 |
13014 |
01 200 |
01.06.1959 |
13015 |
01 115 |
25.08.1959 |
13016 |
01 220 |
05.08.1959 |
13017 |
01 178 |
09.09.1959 |
13018 |
01 194 |
30.09.1959 |
13019 |
01 232 |
05.11.1959 |
13020 |
01 130 |
06.05.1960 |
13021 |
01 231 |
12.05.1960 |
13022 |
01 181 |
02.06.1960 |
13023 |
01 124 |
24.06.1960 |
13024 |
01 180 |
09.08.1960 |
13025 |
01 164 |
28.07.1960 |
13026 |
01 172 |
28.08.1960 |
13071 |
01 133 |
30.08.1960 |
13072 |
01 193 |
06.09.1960 |
13073 |
01 206 |
22.09.1960 |
13074 |
01 230 |
13.10.1960 |
13075 |
01 113 |
25.10.1960 |
13076 |
01 177 |
07.11.1960 |
13077 |
01 190 |
04.01.1961 |
13078 |
01 227 |
18.01.1961 |
13079 |
01 132 |
07.02.1961 |
13080 |
01 187 |
15.09.1961 |
13081 |
01 146 |
23.05.1961 |
13082 |
01 210 |
01.10.1961 |
13083 |
01 148 |
05.07.1961 |
13084 |
01 125 |
15.08.1961 |
13085 |
01 169 |
27.09.1961 |
13086 |
01 166 |
17.10.1961 |
13087 |
01 196 |
23.11.1961 |
13088 |
01 103 |
01.11.1961 |
13089 |
01 182 |
07.12.1961 |
13090 |
01 228 |
21.12.1961 |
13091 |
01 199 |
15.12.1961 |
13092 |
01 197 |
Zuletzt stellte Jung Werkzeugmaschinen, Kräne, Drehbänke und militä-risches Gerät her, bis am 30. September 1991 das Werk geschlossen, das Inventar versteigert und die Hallen vermietet wurden. Dies geschah dem Vernehmen nach nicht aus wirtschaftlicher Notlage, sondern schlicht aus dem Grunde, daß sich der Eigentümer aus dem Geschäft zurückzog.
Jung war auch Lieferant für die Bahnen im nahen Siegerland. So gelang-ten zwei Dampfloks der Baureihe 23 direkt ab Werk zum wenige Kilo-meter entfernten Bahnbetriebswerk Siegen. Die Eisern-Siegener-Eisen-bahn (ESE), die Kleinbahn Weidenau-Deuz (KWD) und die Freien-gründer-Eisenbahn (FGE) bezogen Dampfloks zwischen 1907 und 1942 sowie Dieselloks von 1959 bis 1962 aus Jungenthal. Eine weitere neue Diesellok ging 1949 an die Firma Waldrich in Siegen, die 1967 gegen eine gebrauchte Jung-Lok ausgetauscht wurde. Auch andere Werks- und Grubenbahnen im Siegerland bezogen ihre Lokomotiven bei der Firma Arnold Jung, Jungenthal (Tabelle 2).
Tabelle 2: Einige Jung-Lieferungen ins Siegerland
Fahrzeug |
Baujahr |
Fabrik-Nr. |
geliefert an |
Dampflok Dn2t |
1907 |
1000 |
FGE Nr. 1 |
Dampflok Dn2t |
1907 |
1001 |
FGE Nr. 2 |
Dampflok Dn2t |
1908 |
1229 |
FGE Nr. 3 |
Dampflok Dn2t |
1923 |
3425 |
ESE Nr. 11 |
Dampflok Dn2t |
1923 |
3426 |
ESE Nr. 12 |
Dampflok Dn2t |
1925 |
3709 |
ESE Nr. 13 |
Dampflok Dn2t |
1925 |
3710 |
ESE Nr. 14 |
Dampflok Dn2t |
1925 |
3711 |
ESE Nr. 15 |
Dampflok Dn2t |
1928 |
4095 |
KWD Nr. 7 |
Dampflok Dn2t |
1929 |
4760 |
KWD Nr. 8 |
Dampflok Dn2t |
1935 |
5597 |
ESE Nr. 16 |
Dampflok Dn2t |
1938 |
7548 |
KWD Nr. 9 |
Dampflok C1'h2t |
1942 |
9247 |
KWD Nr. 10 |
Diesellok |
1949 |
10689 |
Waldrich |
Diesellok |
1952 |
11569 |
Waldrich |
Diesellok R42C |
1959 |
13117 |
KWD Nr. 12 |
Diesellok R42C |
1959 |
13118 |
FGE Nr. 4'' |
Diesellok R42C |
1960 |
13119 |
KWD Nr. 11 |
Diesellok R42C |
1961 |
13286 |
ESE Nr. 17 |
Diesellok R42C |
1961 |
13288 |
ESE Nr. 18 |
Diesellok R42C |
1961 |
13289 |
ESE Nr. 19 |
Diesellok R42C |
1961 |
13408 |
KWD Nr. 13 |
Diesellok R42C |
1962 |
13423 |
ESE Nr. 20 |
FGE Nr. 20 |
|||
Diesellok R42C |
1962 |
13425 |
KWD Nr. 14 |
Lok 12 der ehemaligen Kleinbahn Weidenau-Deuz, 1959 von Jung gebaut, ist als Denkmal in der Nähe der früheren Lokomotivfabrik in Kirchen aufgestellt wor-den. Die Lok hatte zuletzt Dienst bei der
Firma Gontermann & Peipers in Kaan-Marienborn verrichtet und wurde nun dem Heimatverein Kirchen überlassen. Fotos vom Transport in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2014 sehen Sie in der
folgenden Galerie:
Siegener Eisenbahnbedarf AG (SEAG)
Carl-Eberhard Weiß, Maschinenschlosser aus dem Schwäbischen, gründete 1871 in Siegen die Firma "Carl Weiß", die Geräte für den Bergbau und Zubehör für die Eisenbahn fertigte. Das Geschäft wurde im Jahre 1906 ausgeweitet und ein weiteres Werk in Dreis-Tiefenbach ausschließlich für den Eisenbahn-Waggonbau eingerichtet. Ab 1908 firmierte dieses Werk als selbstständiger Betrieb unter dem Namen "Siegener Eisenbahnbedarf AG (SEAG)". Die Charlottenhütte in Niederschelden übernahm SEAG 1920 von der Eigentümer-Familie. Die Charlottenhütte wiederum ging 1926 in den Vereinigten Stahlwerken auf. Somit gehörte SEAG nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Rheinischen Stahlwerken. SEAG beschäftigte zeitweise mehr als 1200 Mitarbeiter.
Tabelle 3: SEAG-Lieferungen an die Siegener Kreisbahn (SKB)
Fahrzeug |
Baujahr |
Fabrik-Nr. |
E-Teil |
Bezeichnung bei der SKB |
E-Lok, Bo |
1908 |
184 |
SSW |
E-Lok Nr. 1 |
E-Lok, Bo |
1908 |
185 |
SSW |
E-Lok Nr. 2 |
Strassenbahn TW |
1910 |
AEG |
TW 13 |
|
Strassenbahn TW |
1910 |
AEG |
TW 14 |
|
Strassenbahn TW |
1910 |
AEG |
TW 15 |
|
Strassenbahn TW |
1910 |
AEG |
TW 16 |
|
Strassenbahn TW |
1910 |
AEG |
TW 17 |
|
Strassenbahn TW |
1910 |
AEG |
TW 18 |
|
E-Lok, Bo' Bo' |
1925 |
8551 |
SSW |
E-Lok Nr. 3 |
Strassenbahn TW KSW |
1948 |
19536 |
SSW |
TW 33 |
Strassenbahn TW KSW |
1948 |
19542 |
SSW |
TW 34 |
Strassenbahn TW KSW |
1948 |
19544 |
SSW |
TW 35 |
Strassenbahn TW KSW |
1948 |
19535 |
SSW |
TW 36 |
Strassenbahn TW KSW |
1948 |
19547 |
SSW |
TW 37 |
Strassenbahn TW KSW |
1948 |
19538 |
SSW |
TW 38 |
Für die Strassenbahnwagen wurden nur die Fahrgestelle gefertigt.
SEAG fertigte nur ausnahmsweise Teile für Lokomotiven und Triebwagen. Die Firma spezialisierte sich auf den Bau von Güterwagen aller Art. Mitte der 50er Jahre experimentierte SEAG mit verschiedenartigen Hubkippern.
Am 1. Juli 1971 entstand durch Zusammenschluß der SEAG in Dreis-Tiefenbach und der "Deutschen Waggon- & Maschinenfabrik GmbH (DWM)“ in Berlin die "Waggon-Union". In schneller Folge änderten sich nun die Besitzverhältnise: Ab 1984 gehörte das Werk zur Thyssen Industrie AG. Seit 1990 mit dem Zusammenschluß mit der Asea-Brown-Boveri Gruppe (ABB) war der Firmenname ABB-Henschel. Im Jahre 1996 fusionierten ABB und AEG-Daimler-Benz AG zu "Adtranz". Bis 1997 wurden in Dreis-Tiefenbach noch Güterwaggons produziert.
Bereits 2001 übernahm der kanadische Konzern "Bombardier Transportation" die Adtranz und damit auch das Werk in Dreis-Tiefenbach. Dort hat Bombardier hat inzwischen seine gesamte Drehgestell-Fertigung konzentriert. Mit dieser speziellen Expertise scheint das Werk für die Zukunft bestens gerüstet.