Der Fahrweg
„Während all der Tausende und vielleicht Hunderttausende von Jahren, seit das sonderbare Wesen, genannt Mensch, die Erde beschreitet, hatte kein anderes Höchstmaß irdischer Fortbewegung gegolten als der Lauf des Pferdes, das rollende Rad, das geruderte oder gesegelte Schiff. All die Fülle des technischen Fortschritts innerhalb jenes schmalen, vom Bewusstsein belichteten Raumes, den wir Weltgeschichte nennen, hatte keine merkbare Beschleunigung im Rhythmus der Bewegung gezeitigt. Die Armeen Wallensteins kamen kaum rascher vorwärts als die Legionen Cäsars, die Armeen Napoleons brachen nicht rapider vor als die Horden Dschingis-Khans, die Korvetten Nelsons durchquerten das Meer nur um weniges rascher als die Raubboote der Wikinger oder die Handelsschiffe der Phönizier. Ein Lord Byron bewältigte auf seiner Childe-Harold-Fahrt nicht mehr Meilen im Tag als Ovidius auf seinem Wege ins pontische Exil, Goethe reist im achtzehnten Jahrhundert nicht wesentlich bequemer und geschwinder als der Apostel Paulus zu Anfang des Jahrtausends. Unverändert weit liegen die Länder in Raum und Zeit voneinander geschieden im Zeitalter Napoleons wie unter dem römischen Imperium: noch obsiegt der Widerstand der Materie über den menschlichen Willen.“ (1)
Bis zum 19. Jahrhundert sind Personen und Güter in Europa auf dem Landwege seit jeher mit Hilfe der immer gleichen Verkehrsmittel transportiert worden. Personen ritten auf Pferden oder reisten in Kutschen, welche von Pferden gezogen wurden. Auch Güter wurden in Fuhrwerken mit Pferdebespannung versandt. Die Geschwindigkeiten waren gering und erreichten bei Postkutschen mit 15 Kilometern pro Stunde ihre Obergrenze. Solche Geschwindigkeiten konnten nur bei gutem Zustand der Wege erzielt werden. In der Regel aber waren diese uneben, wenig gut befestigt und damit insbesondere bei Regen schlecht passierbar. Häufig mussten die Anwohner mit ihren Pferden dann buchstäblich „die Karre aus dem Dreck ziehen“. Die Wege folgten dem Auf und Ab der Landschaft und oft hatten sich gerade auf festem Untergrund tiefe Spurrillen, so genannte Geleise, eingegraben. Den Verkehrsweg zu verbessern, bedeutete physikalisch zum einen die Reibung zwischen dem Laufkranz des Rades und der Oberfläche des Weges zu vermindern und zum anderen vor allem die Unebenheit der Landschaft zu nivellieren: „Ein idealer Weg muß glatt, eben, hart und gerade sein“ (2). Seit dem Mittelalter wurden vielerorts Kohle und Erze in den Bergwerken auf Schienen transportiert. Solche Schienenstrecken bargen prinzipiell alle Voraussetzungen zur Verbesserung auch längerer Wege zu Lande in sich. Vor diesem Hintergrund verlief die Entwicklung der Schiene von runden, rein hölzernen Formen, über mit Platten benagelte Winkel-Hölzer (1767) und den noch bruchanfälligen Eisenguß-Strängen von höchstens einem Meter Länge bis hin zu stabilen, gewalzten Exemplaren aus Schmiedeeisen, die immerhin schon eine Länge von über vier Metern haben durften (1829). Die darauf rollenden Fahrzeuge konnten Räder mit oder ohne Spurkränze haben. Die schmiedeeiserne Schiene mit doppeltem T-Profil konnte schließlich, weil grundsätzlich glatt, eben, hart und gerade, als Annäherung an den idealen Verkehrsweg gelten. Hier waren Räder mit Spurkränzen erforderlich, womit die technische Trennung von Strassen- und Schienenverkehr endgültig vollzogen ist.
Die Zugmaschine
Auf den bis zum frühen 19. Jahrhundert existierenden Schienenwegen wurden die Wagen mit herkömmlicher Pferdekraft bewegt. Die Pferdekraft weist naturgemäß deutliche Beschränkungen auf: „Das Tier bewegt sich nicht gleichmäßig und kontinuierlich vorwärts, sondern auf unregelmäßig humpelnde Weise, wobei sich der Körper bei jeder wechselseitigen Bewegung der Glieder anhebt und zurückfällt. Dies ist deutlich spürbar beim Reiten, und es ist dasselbe, wenn ein Pferd eine Wagenladung zieht“ (3). Andere Nachteile, die bei Verwendung von Tieren natür-licherweise auftreten, kommen hinzu: aufwendiger Unterhalt, Krankheiten, Tierquälerei. Die Kraft von Tieren durch Maschinenkraft zu ersetzen, lag also nahe. Es ist kein Zufall, dass dies im Umfeld vorindustrieller Eisenerz- und Kohlereviere, insbesondere denen im Nordosten von England, geschah. Die von Thomas Newcomen entwickelte Dampfmaschine wurde zum Beginn des 18. Jahrhunderts in England erstmals eingesetzt, um Wasser aus Kohlegruben zu pumpen, schließlich nach der Weiter-entwicklung durch James Watt um über Transmissionen Spindeln und Webstühle in Gang zu setzen und Eisenhämmer zu bewegen. Mit der Hochdruck-Dampfmaschine –entwickelt von Oliver Evans- stand dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein genügend leistungsfähiges, kompaktes Aggregat zur Verfügung, das grundsätzlich auch einen Einsatz als mobile Dampfmaschine möglich erscheinen ließ. Allerdings stellte eine solche mobile Dampfmaschine Anforderungen, die damals als kaum erfüllbar galten: „Kessel und Maschine …. sind von möglichst einfacher Bauart, die selbst starken Stößen gewachsen ist und die es gestattet, auch in Sturm und Wetter und selbst bei starker Verschmutzung den Betrieb in vollem Umfange aufrecht zu erhalten. … Ein erschwerender Umstand ist die starke räumlich Beschränkung durch das zur Verfügung stehende Normalprofil. Ein weiterer großer Übelstand sind die harten Betriebsbedingen, welchen die Steuerung der Maschine genügen soll. Der mitzunehmende Wasservorrat ist naturgemäß beschränkt, die Maschine soll also möglichst geringen Dampfverbrauch haben. … Und nun muß die Steuerung auch noch so beschaffen sein, dass sie verschiedene Umlaufsrichtungen der Maschine ermöglicht, denn eine Lokomotive muß ja nicht bloß vorwärts, sonder auch rückwärts fahren können. Die Steuerung muß es ferner ermöglichen, dem Zylinder bald sehr große, bald sehr kleine Füllungen zu geben, denn bald soll die Lokomotive einen sehr schweren Eisenbahnzug eine steile Rampe hinaufziehen, bald soll sie in ebener oder talwärts gerichteter Fahrt längere Zeit eine ganz geringe Kraft ausüben, und bei all diesen schweren Anforderungen darf die Steuerung nichts weniger als empfindlich sein…“ (4).
Ein erster Versuch, die Dampf-maschine als Fortbewegungs-
mittel zu nutzen, war im Jahre 1769 der Dampfwagen des französischen Artillerieleut-nants Nicolas-Joseph Cugnot.
Dieses Abenteuer scheiterte kläglich, da sich der Wagen weder lenken noch bremsen ließ und gegen eine Kasernenmauer fuhr. Den ersten brauchbaren Dampfwagen baute der Engländer Richard Trevithick, der damit als der Erfinder der Dampflokomotive gelten darf. Am 21. Februar 1804 fuhr diese Hochdruckmaschine, mit einem Schwungrad ausge-rüstet, auf den Schienen des Pennydarren Eisenwerkes von Merthyr Tydfil in Wales. Die Lokomotive funktionierte, leider war der Fahrweg noch nicht entsprechend geeignet, so dass die gusseisernen Winkel-Schienen unter der Last der Maschine mehrfach brachen.
Die Vervollkommnung der Eisenbahn zum zuver-lässigen Verkehrsmittel für die Beförderung von Gütern und Personen ist mit dem Namen George Stephenson (1781-1848) eng verbunden. Im Jahre 1814 stellte er seine erste Lokomotive her und gründete 1823 unter anderem zusammen mit seinem Sohn Robert die Lokomotivfabrik Robert Stephenson & Company in Newcastle-upon-Tyne.
Er war der Projektleiter der ersten öffentlichen Bahnlinie von Darlington nach Stockton, die am 26. August 1825 im Betrieb ging. Schließlich siegte am 6. Oktober 1829 Stephenson’s Maschine „Rocket“ im Wettbewerb von Rainhill um die beste Lokomotive für die Strecke Liverpool-Manchester. Die „Rocket“ erreicht die damals erstaunliche Geschwindigkeit von 45 km/h ohne Mühe. Die Geschwindigkeiten der ersten Eisenbahnen lagen im Vergleich zur Postkutsche etwa um das Dreifache höher. Zeitgenossen müssen daher die Eisenbahn als Vernichter von Raum und Zeit erlebt haben. Die Unberechenbarkeit und Erschöpfbarkeit der Tierkraft wurde abgelöst durch die regelmäßig arbeitende, theoretisch unerschöpfbare Maschinenkraft, ein Entwicklungssprung der erstmals das Leben der Menschheit spürbar beschleunigte. Der menschliche Wille bezwingt hier in der Tat die widerstrebende Materie!
Die Wirkungsweise der Dampflokomotive wurde später in einer Abhandlung (5) wie folgt beschrieben: Auf dem Rost des Lokomotivkessels verbrennen wir einen Brennstoff, meist Steinkohle, unter Zutritt von Luft und erzeugen damit Wärme. Diese Wärme übertragen wir auf das Wasser des Kessels, bringen dieses zum Sieden und erzeugen gespannten Dampf aus ihm im geschlossenen Kessel-raum. Diesen gespannten Dampf führen wir in die Zylinder, lassen ihn hier seine Spannung, seinen Druck abgeben an die hin- und herbeweglichen Kolben. Deren Druck und Bewegung übertragen wir durch Kolben- und Triebstangen auf die sich drehenden Triebräder und weiter durch Kuppelstangen auf die mit den Triebrädern gekuppelten Kuppelräder. Trieb- und Kuppelräder wälzen sich auf der Schienenbahn ab und ziehen dabei die auf ihnen ruhende Lokomotive mit angehängtem Zug vorwärts. Am Anfang haben wir also die in der Kohle aufgespeicherte Arbeitsfähigkeit, am Ende die am Zughaken der Lokomotive geäußerte Zugleistung. Dazwischen liegt die Verbrennung der Kohle auf dem Rost, die Entwicklung der Wärme, die Verdampfung des Wassers im Kessel und die Arbeitsleistung des gespannten Dampfes in den Zylindern. Wir sehen also, dass die Wärme nur eine Zwischenform ist, die wir aus der versteckten Arbeitsfähigkeit der Kohle gewinnen und dann wieder in die Zugarbeit der Lokomotive verwandeln. Ohne diese Zwischenform kommen wir nicht aus. Die eigentliche Arbeits- und Kraftquelle ist die Kohle, Wasser und Dampf sind lediglich Arbeitsträger. Dieser Vorgang spielt sich bei allen Dampflokomotiven ab. Jede Lokomotive hat demnach Kessel (Abb. 1), Triebwerk (Abb. 2) und Lauf-werk (Abb. 3).
Schiene + Dampflokomotive = Eisenbahn
Mit der Eisenbahn war etwas vollkommen Neues entstanden. Ihre Kom-ponenten Schienenstrang und mobile Dampfmaschine mußten aus Vor-läufern „lediglich“ weiterentwickelt werden. Aus der hölzernen Bergwerks-schiene wurde die dauerhafte, glatte Eisenschiene, aus der einfachen, großvolumigen, stationären Dampfmaschine die kompakte Hochdruck-dampf-Lokomotive. Zusammen aber bildeten sie ein neuartiges System, das technisch nicht kompatibel mit dem Strassenverkehr war. Allerdings wurde dieses System zunächst in seiner Nutzung genauso betrachtet wie eine Strasse oder ein schiffbarer Wasserweg. Die Eisenbahn sollte für den allgemeinen, individuellen Verkehr da sein. Noch 1838 verkehrten zum Beispiel private Fahrzeuge auf den Strecken der Liverpool-Manchester Eisenbahn, in deren Statuten es hieß: Jedermann soll mit seinen Fahr-zeuge freien Zugang zu allen Strecken haben, um Waren, Personen oder Vieh zu transportieren. Doch bald schon änderte sich diese Sichtweise. „Die Eisenbahngesellschaften erkannten, dass sie aus Gründen der Leistungsfähigkeit sowie der öffentlichen Sicherheit und Bequemlichkeit nicht weiter die konkurrierenden Fuhrunternehmen zulassen konnten, die ihre Lokomotiven und Waggons auf derselben Strecke laufen ließen. Man erkannte schließlich, daß die Verkehrswege einheitlich betrieben und verwaltet werden mussten. Ein Parlamentsausschuß forderte dement-sprechend im Jahre 1839, dass konkurrierende Unternehmen keine Lokomotiven auf derselben Strecke fahren lassen dürfen; 1840 entschied der Ausschuß, dass die Bahngesellschaften, die über Lokomotiven ver-fügten, praktisch ein Monopol für die Personenbeförderung besäßen, und zwar aufgrund der Natur ihres Betriebes“ (6). Die Natur des Eisenbahn-betriebes bestand und besteht noch heute darin, daß Fahrweg und Fahr-zeug derart aufeinander abgestimmt und angewiesen sind, dass sie als eine einzige riesige Maschine begriffen werden können. Der bewegliche Teil sind Lokomotive und Wagen mit speziellen Rädern, welche Spurkränze aufweisen. Der festliegende Teil ist der starre, hunderte Kilometer lange Fahrweg. Der Fahrweg legt die Spurweite, also den Abstand der Räder fest. George Stevenson wurde die Spurweite übrigens von den Behörden vorgegeben. Sie sollte dem der englischen Postkutschen entsprechen und 5 Fuß betragen. Er konnte jedoch die innen liegenden Zylinder der Maschine so nicht unterbringen. Nach Verhandlungen mit der Behörde wurde eine Spurweite von 5 Fuß 8 1/2 Zoll genehmigt, um Raum für die Zylinder der Lok zu schaffen. Da fast alle Länder zunächst Lokomotiven aus England kaufen mußten, wurde so die Spurweite von umgerechnet 1435 mm für die Bahnen Europas mit Ausnahme derer Spaniens, Portugals und Russlands festgelegt. Die Spurweite bestimmt auch weitgehend die maximale Größe der Fahrzeuge innerhalb des Lichtraum-Profils, welches den Fahrzeugen sozusagen die Schneise freihält, innerhalb derer sie sich bewegen können. Die baulichen Anlagen wie Gebäude, Bahnsteige oder Signale müssen einen bestimmten Abstand zu den Fahrzeugen halten. Ausserdem können die Fahrzeuge nicht kurzfristig einander ausweichen, da sie ja spurgebunden sind. Dies alles muß exakt geregelt sein und wurde geregelt durch die Beendigung des Individualverkehrs und letztlich die Übernahme und Ausübung des Transportmonopols durch den Staat.
Mit der Erfindung der Dampflok-betriebenen Eisenbahn und dem damit verbundenen Aufschwung der Wirtschaft wurde England, wie man dort stolz proklamierte, zum „Workshop of the World“.
Literatur: